Ein Gespräch mit meinem Leser Sören brachte mich auf eine spannende Frage: Warum enden viele Regionalzüge an innerdeutschen Ländergrenzen? Warum gibt es so wenige durchgehende Verbindungen? Die Antwort liegt in Geschichte, Politik und Struktur des deutschen Bahnwesens.
Historische Spurensuche: Von Länderbahnen und Kaiserreich
Die heutigen Strukturen haben historische Wurzeln. Nach der Reichsgründung 1871 betrieben die Gliedstaaten eigene Staatsbahnen. Diese Länderbahnen hatten eigene Verwaltung, Technik und Fahrpläne. Versuche, ein einheitliches Reichsbahnsystem zu etablieren, scheiterten. Die Bundesstaaten wollten ihre Souveränität nicht aufgeben. Erst nach und nach wurden größere Strecken verstaatlicht. Die Organisation blieb jedoch föderal geprägt.
Dieses föderale Denken zieht sich bis heute durch. Der Bund gibt den Rahmen vor. Die Länder organisieren und bestellen den Schienenpersonennahverkehr (SPNV) eigenständig. Viele Linien enden an der Landesgrenze. Die Zuständigkeit und Finanzierung hört dort auf.
Föderalismus heute: Kooperation oder Kleinstaaterei?
Das Grundgesetz schreibt den Föderalismus als Staatsstrukturprinzip fest. Die Länder haben eigene Parlamente, Haushalte und Verkehrsministerien. Die Planung, Organisation und Finanzierung des Regionalverkehrs ist in den Nahverkehrsgesetzen der Länder geregelt. Der Bund stellt Mittel bereit. Die Länder entscheiden, wie sie eingesetzt werden und damit über die Frage, ob die Regionalzüge an den jeweiligen Ländergrenzen enden müssen.
In der Praxis bedeutet das: Will ein Zug über die Landesgrenze fahren, müssen sich zwei oder mehr Bundesländer einigen. Sie müssen Finanzierung, Fahrpläne und Zuständigkeiten klären. Das klingt nach Kooperation, ist aber oft ein zähes Ringen. Nicht selten scheitert eine durchgehende Verbindung. Kein Land fühlt sich für den fremden Streckenabschnitt zuständig. Die Fahrgastzahlen werden oft als zu gering angesehen. Doch es gibt ausnahmen – wenn auch sehr wenige.
Die Besonderheit: Die Strecke Göttingen–Glauchau
Die Strecke Göttingen–Glauchau ist eine seltene Ausnahme. Sie verbindet Niedersachsen, Hessen, Thüringen und Sachsen direkt miteinander. Der Regional-Express RE 1 fährt auf dieser Linie im Zweistundentakt. Die Züge fahren von Göttingen über Erfurt und Gera bis nach Glauchau.
Diese Verbindung war früher eine wichtige Fernverkehrsstrecke. Seit 2000 wird sie als Regional-Express mit modernen Triebwagen betrieben. Die Strecke ist teilweise nicht elektrifiziert. Deshalb fahren Dieseltriebzüge. Die Fahrzeit von Glauchau nach Weimar beträgt etwa zwei Stunden. Bis zum Fahrplanwechsel 2011/12 fuhren die Züge sogar bis Chemnitz.
Die Strecke zeigt, dass Kooperation zwischen Bundesländern möglich ist. Der RE 1 wird gemeinsam von mehreren Ländern bestellt und finanziert. Die Organisation ist aber aufwendig. Jeder Abschnitt hat eigene Anforderungen und Zuständigkeiten.
Wissenschaftlicher Blick: Strukturen, Kosten, Effizienz
Der Regionalverkehr wird von Aufgabenträgern organisiert. Meist sind das Zweckverbände auf Landes- oder Kreisebene. Sie erstellen Nahverkehrspläne, vergeben Leistungen an Bahnunternehmen und bezahlen diese aus Landesmitteln. Ein Zug, der über die Grenze fährt, müsste von mehreren Aufgabenträgern bestellt und finanziert werden. Das erfordert Abstimmung, zusätzliche Verträge und einen komplizierten Kostenschlüssel.
Eine Beispielrechnung: Eine durchgehende Regionalzuglinie über zwei Bundesländer verursacht jährliche Betriebskosten von 10 Millionen Euro. Land A ist für 60% der Strecke zuständig, Land B für 40%. Die Kosten müssten aufgeteilt werden. Land B könnte den Nutzen für seine Bürger als zu gering ansehen. Die Fahrgastzahlen auf dem fremden Abschnitt könnten niedriger sein. Dann wird die Verbindung oft an der Grenze gekappt. Doch was wären die Alternativen, um eine durchgehende Verbindung dennoch zu ermöglichen?
Der Verkehrsverbund Berlin-Brandenburg (VBB) etwa organisiert grenzüberschreitende Verkehre nach Polen und zwischen Berlin und Brandenburg. Das zeigt Vorteile einer gemeinsamen Organisation. Es gibt aber auch Grenzen. Unterschiedliche technische Standards, Fahrpläne und politische Prioritäten erschweren den Ausbau. Was es braucht ist mehr Wille zur Kooperation im Sinne des Kunden und der Region.
Föderalismus als Chance und Hemmschuh
Die föderale Struktur Deutschlands ist tief verankert. Sie hat historische Wurzeln im 19. Jahrhundert und ermöglicht regionale Anpassung und Mitbestimmung. Im Regionalverkehr führt sie jedoch fast immer zu Bruchstellen an den Ländergrenzen. Kooperation ist vorgesehen, aber schwierig umzusetzen. Zuständigkeiten, Kosten und politische Interessen gehen zu weit auseinander.
Wer am Bahnsteig auf den Anschlusszug im Nachbarland wartet, weiß: Es ist nicht nur eine Frage des Fahrplans. Es ist ein Spiegel der deutschen Geschichte und Politik. Vielleicht ist es Zeit für neue Wege der Zusammenarbeit. Für mehr Durchgängigkeit, weniger Umstiege und einen echten Deutschlandtakt im Regionalverkehr. Es gibt so viele Regionallinien, die an der Ländergrenze enden und mit anderen verknüpft werden könnten.
Mit dem nötigen Feingefühl könnte man ein Netz auf Nebenbahn-Strecken in abgelegenen Regionen aufbauen, das direkte Durchreisen zu weit entfernten Zielen ermöglicht. Wäre es so vermessen von Kamenz direkt nach Berlin fahren zu können, ohne in Dresden umzusteigen? Damit das Wirklichkeit wird, braucht es einen grundlegenden Wandel im föderalen Regionalverkehr, weniger Bürokratie und eine einfachere Finanzierung.
Mein Dank geht an Sören, der mich auf das Thema aufmerksam gemacht und mein Interesse an dem brachliegenden Potenzial im Regionalverkehr geweckt hat.